Sonntag, 5. Januar 2014

Demographische Chance - Wie reagiert die Medienwirtschaft, die Festung der Jugend, das Bollwerk der Geschwindigkeit, das Manifest des Fortschritts – wie reagiert diese Ökonomie auf Silver-User? Eine Blog-Story. Von Prof. Dr. phil. Stefan Strauß


(Dieser Artikel erscheint auch in der FOM Jahresschrift 2013/2014)



Montag, 13:41 Uhr
Oma hat mich gerade wieder angeskypet. Großer Fehler der Frau zu erklären, wie das geht. Da paaren sich vieeeeeel Zeit mit großem Kontaktdrang. Logisch. Ist ja auch 84, die Gute. Und dann kommt immer meine Lieblingsfrage: „Und, was machst Du so?“ „Oma, was wohl? ARBEITEN, um ein Uhr arbeiten normale Menschen, was ist?“ Ach, Sie meint es ja gut.



Dienstag, 18:15 Uhr
Bin im Second-Hand-Laden. Stehe vor den Schallplatten und bekomme eine Diskussion von einem Großvater, schätzungsweise in den 70ern, und eine postpubertären Aushilfsgangster mit, schätzungsweise der Teeny-Enkel. Der Zankapfel: Warum soll man sich überhaupt noch meterweise Schallplatten ins Wohnzimmer stellen, wo man doch eh alles online zieht? Das Argument, dass diese eine Platte eine originale Pressung der ersten Serie mit hohem emotionalen Wert ist, quittiert die 50 Cent-Kopie mit „Boooo, watt? Is voll groß, eeyh, und voll verkratzt, eeeyh, nähhh, lass dat hier, eeehy, stinkt voll, eeyh, will ich nich inne Bude haben.“

Dachte sofort an meine handsignierte Life-of-Agony „The river runs red“-CD. Die verteidige ich bis zum letzten Atemzug. Ich mochte 50 Cent noch nie.



Mittwoch, 17:12 Uhr
War gerade in einem Kaufhaus, suchte Handtücher, also zur Treppe, Info-Tafel der Etagen gesucht. Vergeblich. Dafür ein lustiges Touchpad auf Hüfthöhe. Gentleman der ich bin lasse ich das in gefühltem Ganzkörper-Nerz gekleidete 1,50-Großmütterchen vor....und beobachte. Sie sucht auch irgendwas, versteht intuitiv die Wischtechnik, navigiert sich wie selbstverständlich durch das virtuelle Kaufhaus - wie Chekov durch den Maschinenraum der Enterprise. Bis auf eine Sache: Ich muss ihr gleich sagen, dass Sie zum „Umblättern“ der Seiten NICHT Ihre Fingerspitzen bespucken muss, wie beim Telefonbuch früher. Statt das eingespeichelte Pad zu bemühen frage ich old-school eine von den Kassiererinnen, wo ich mein Handtuch finden könnte. Next time – amazon!



Freitag, 11:02 Uhr
Kassiererinnen gibt es leider nicht überall. War gerade bei einem Kunden im tiefsten Ruhrgebiet. Hunger. Muss essen, kann das aber leider nicht runterladen. Muss Einkaufen, verdammte Haptik. Also in den nächsten SB-Markt, relevant set am POS, no prob so far. incoming call, customer, trouble shooting via cellphone, standing in line, waiting to pay, success and customer satisfaction, thanks mobile phone, small talk...Und dann war da keine Kassiererin. Selbstscan-Kasse, Ikea lässt grüßen.

Ich fühlte mich plötzlich wie mein Vater 1993, der mit schohwiuff an unserem VHS-Monster nicht klar kam. „Sohn, nimm mir das auf, ich hab … besseres zu tun, als mich mit dieser Technik auseinanderzusetzen.“ ShowView war gegen diesen Selbstverbuchungsterminal aber selbsterklärend. Erst die Kreditkarte, oder erst scannen, warum in den Glaskasten legen? Ah, der wiegt...Nein, nicht daneben legen...Uahhh.

Dann passierte es: Ein gefühlt 15jähriges Pickelgesicht in weißem Umhang und mit Namensschildchen kommt angewackelt mit dem üblichen customer-is-king-smile „Soll ich Ihnen mal helfen?“ Meine differenzierte und überlegte Antwort: „NEIN, ich kann das“, woraufhin mich der Tennis-Rentner hinter mir Mut zusprach, dass wir das auch gerne zusammen machen können. Ich bin 35. Nur über meine Leiche.



Samstag, 20:46 Uhr
Endlich den FOM-Vorlesungsmarathon von Freitag 16:30 bis Samstag 17 Uhr überstanden. Das ist wie 24h-Dienst im Krankenhaus, nur kurz schlafen, dann weiter operieren. Drei Master-Gruppen und sechs Raider ;) später...

Die hart erkämpften Lebensmittel (Memo an mich: Dringend mehr Lebensmittel online bestellen) zubereitet und mit Freunden verspeist, mitsamt Kids, also ge- nicht verspeist, die Kids. Fritz ist zwei. Sprachunfähig. Noch. Kann aber mit iPhone umgehen. „Fritz, spiel uns mal Dein Lieblingslied vor.“ Mit Denkerfalte in der Speckstirn und Knubbelfingerchen virtuos durch iTunes, ausgewählt und strahlend im Takt wippend, also fast im Takt, zumindest gefühlt im Takt wippend – triumphierend gestrahlt.

Nachdem Fritz dann noch, kein Scherz, ein Gruppenfoto von uns gemacht hat, was er ja leider nicht verbal kommentieren konnte, musste ich wieder an die Oma im Kaufhaus und meine bei Skype denken. Die können das auch. Nur mein Vater tut sich da schwer. Warum eigentlich? Verlorene Generation?



Sonntag, 15:30 Uhr

Heute endlich komplett medienfrei. Nur Zeit für mich.

Ein gutes Buch vielleicht, vielleicht ein bisschen vorm neuen 55“ Smart-TV abhängen, bisschen was von der Festplatte on-demand reziperien, oder einen Blockbuster runterladen...dabei vielleicht mal auf dem pad kurz recherchieren, wo ich Lebensmittel online ordern kann, böse Selbstscankasse. Ne, Constantin macht das doch schon, den mal kurz anrufen, mit dem Smartphone, wanna be a smart customer, too. No journey anymore. Wie Akku platt? Verfluchtes Multi-screening.

Meine Hündin muss mal raus, kann die das nicht einfach in ein Zip packen und archivieren? Virtual Storage hab ich noch genug. Ungenutzte Terras liegen da rum. Aber Sie will nicht. Will Ball. Und mich. Ohne Handy.

Aber danach wieder rein. Bisschen Konsole zocken. Ist doch Sonntag. Mein Sonntag. Medienfrei. Endlich.




Diese streng dem phänomenologischen Zugang verschriebenen Alltagssituationen stehen stellvertretend für einige der Herausforderungen der Medienwirtschaft. Die Trivialität und die Omnipräsenz der Medienwirtschaft im Alltag erschwert eine abstrakte Betrachtungsweise.
Die Affinität der Rentner zum Internet steigt mit der neuen freien Zeit signifikant an. Wozu in den letzten Jahren des Berufslebens kaum Zeit und vor allem Kopf blieb, wird nun nachgeholt. Forciert wird dies durch die häufige Diskrepanz zwischen urbanem und provinziellem Lebensumfeld der Generationen, was unter Zuhilfenahme kommunikationstechnischer Lösungen überwunden werden kann. Bleibt aber die Generation derjenigen, die noch nicht in der zeitreichen Rente sind, sich aber bislang erfolgreich um „EDV & Co.“ manövrieren konnten und denen in den nächsten Jahren eine Kollision droht. 
 
Access vs. Ownership ist ebenso eine von der Sozialisierung der Generationen getriebene Fragestellung, am Beispiel der Schallplatte manifestiert. Die intuitive Steuerung von GUI, Graphic User Interfaces, war der Schlüssel zur Akzeptanz der Hardware des letzten Generation, dennoch ist eine Umgewöhnungs- oder Schulungsphase immer auch ein soziale Herausforderung rund um die Ego-Problematik, siehe Selbstscan-Kasse.



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